„Nichts kaufen, wofür im Fernsehen geworben wird!“

Der Journalist Manfred Kriener beschäftigt sich mit Klima, Umwelt, Ernährung, Landwirtschaft und Wein. Sein neues Buch „Leckerland ist abgebrannt“ nehmen wir zum Anlass für ein ausführliches, dreiteiliges Interview. In Teil 1 geht es um die Frage: Wird unser Essen zum Gewissensbissen? Von Christian Caravante

Große Frage zum Start, Herr Kriener: Warum reden wir so viel und so identitär über Essen und richtig essen?

Manfred Kriener Zunächst einmal sind Essen und Trinken genussfreudige Themen und es gibt ja kein Entkommen. Wir essen mindestens dreimal täglich und so liegt es nahe, darüber auch zu reden. Durch die Politisierung und Moralisierung des Essens ist es aber für viele Menschen fast eine Religion geworden. Die Erdüberhitzung, die Skandale der Massentierhaltung und die Veggie-Offensive haben für diese Politisierung gesorgt. Außerdem ist das Essen ein sogenanntes Distinktionsmerkmal. Auf Deutsch: Wir können ein bisschen angeben, mit dem was wir essen, zum Beispiel durchs Fotografieren und Posten; wir können uns absetzen von anderen, uns unterscheiden. Wir können auch unsere Konsumlust beim Einkaufen von Lebensmitteln ausleben. Es gibt viele Gründe für die zunehmende Bedeutung des Essens für unsere Identität. Und dann ist das Essen und Trinken eine kleine eigene Welt, von der wir glauben, sie bestimmen und kontrollieren zu können. Das ist wichtig in einer Welt mit so vielen Ohnmachtserfahrungen und Kontrollverlusten.

Sie schreiben, es gebe eine „moralische Tischordnung“. Ist das ein neues Phänomen? Gab es nicht immer die Besseresser, Moralisten und Puristen?

Die gab es schon immer, aber nicht in diesem Ausmaß. Die moralischen Fragen sind drängender geworden. Denken Sie nur an die Flexitarier. Jeder zweite Deutsche zählt inzwischen dazu, jeder zweite will seinen Fleischkonsum reduzieren. Mit jeder neuen Zeitungsmeldung übers Kükenschreddern oder über die Sklavenhaltung in den Schlachthöfen wird unser Essen zum Gewissensbissen.

Sie erwähnen die seit Jahrzehnten debattierten Ernährungsfragen in dem Buch: Veggi und vegan, das ewige Zuckerthema, das ewige Fertiggerichtthema, das Massentierhaltungsthema, Schleppnetze, Zuchtlachs und Thunfischschwund. Und mit den Superfoods auch noch einen aktuellen Marketinggag, den es beim Essen so alle fünf Jahre gibt.

Nur mal langsam. Wenn Sie ein Buch über Ernährung schreiben, dann müssen sie die wichtigsten Konfliktpunkte in der Ernährungsdebatte auf dem Schirm haben. Ich habe versucht, dabei neue Aspekte und neue Informationen heraus zu arbeiten. Nehmen Sie mal den Lachs: Dass so viele Lachse jedes Jahr ausbüxen und die Wildlachs-Bestände gefährden, dass sie ständig Chemikalienbäder gegen die Läuseplage benötigen, dass sie immer mehr mit Soja gefüttert werden – ich glaube nicht, dass auch nur ein Bruchteil der Leser das alles weiß.

Was hat sich seit den 1980er Jahren geändert? Wirklich geändert? Da gab es immerhin auch schon Reformkostläden (Bio), es gab noch viele Metzger (regional) und Bäcker (Handwerk), man kochte recht Deutsch bis auf Pizza und Nudeln und beim Discounter kauften nur die, die mussten.

Wir leben heute in einer komplett anderen Ernährungswelt. Wir haben den Siegeszug des Fastfoods erlebt, die Globalisierung des Essens, den Abschied von den geregelten Mahlzeiten im Familienkreis. Und die Menschen kochen immer seltener, sie essen und trinken überall, gerne auch im Gehen und Stehen. Und sie sind sehr viel dicker und fettleibiger geworden, die Diabetes-Erkrankungen haben ungeheure Ausmaße erreicht. Die Ernährungsindustrie hält mit ihrem Industriefraß das Zepter in der Hand – mit all den verheerenden Folgen für die Gesundheit, für die Tierhaltung, für unseren Genuss und für den Planeten.

Regional, saisonal, Bio, alles unverpackt, weniger oder kein Fleisch kaufen, und wenn, dann das ganze Tier im Blick und nicht nur Filet, dabei auf jeden Fall auf bedrohte Arten verzichten, den Produzenten immer mitdenken, Fairtrade und mit Siegel, immer selbst kochen und nichts wegwerfen, natürlich auch die Gastronomie unterstützen, aber aufpassen, wo man isst. Klingt sehr anstrengend, wenn man Hunger hat.

Das ist anstrengend, keine Frage. Deshalb plädiere ich in meinem Buch dafür, die Moralkeule öfter mal zuhause im Waffenschrank zu lassen. Ernährungsfanatismus ist genauso abstoßend wie eine fatalistische Genussgier. Wir müssen uns klarmachen, dass wir nicht alles richtig machen können beim Einkaufen. Punkt! Wir können nicht ständig alle ethischen und moralischen Aspekte mitdenken. Wie viele Flugstunden hat die Ananas auf dem Buckel, wie wurde dieses Hähnchen gehalten und was ist mit dem Spargel, haben die Spargelstecher wieder keinen Mindestlohn bekommen? Das Wichtigste aus meiner Sicht: selbst Kochen so oft es geht, Biofleisch kaufen und keine Lebensmittel mit mehr als fünf Zutaten im Kleingedruckten essen und: Nichts kaufen, wofür im Fernsehen geworben wird!

 Serie in drei Teilen. Teil 2 am 10. Juli, Teil 3 am 14. Juli 2020

 

Leckerland ist abgebrannt

LECKERLAND IST ABGEBRANNT

Es geht um Ernährungslügen und den rasanten Wandel der Esskultur: Manfred Kriener versteht sein neues Buch „Leckerland ist abgebrannt“ als Sparringspartner für nachdenkliche Verbraucher. Weil heutzutage zwar pausenlos über Ernährung geredet und geschrieben wird, es aber leider allzu häufig an Wissen und Beurteilungsvermögen fehlt, tut ein flott und humorig geschriebenes, höchst informatives Sachbuch ohne den Sirenenton der Alarmisten richtig gut.

238 Seiten, mit einem Vorwort von Vincent Klink, 18 Euro, www.hirzel.de

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