Erinnerung an Jurgis

Der sozialkritische Roman „Der Dschungel“ von Upton Sinclair beschrieb die Zustände in den US-Schlachthöfen und wurde zum Welterfolg. Das ist nun 115 Jahre her. Geändert hat sich kaum etwas. Ein Kommentar von Wolfgang Götze.

Verwerflicher Umgang mit Nutztieren, mehr als bedenkliche hygienische Zustände, unzumutbare Arbeitsbedingungen, unerträgliche Wohnverhältnisse: Dies sind die Erfahrungen und Erlebnisse von Jurgis – einem Osteuropäer aus Lettland. Auf der Suche nach gutem Einkommen und sozialem Aufstieg findet er fern seines Heimatlandes Arbeit in Schlachthöfen und der Fleischwirtschaft. Das erinnert stark an diverse Berichterstattungen und Schlagzeilen vergangener Jahre und Schlagzeilen jüngster Zeit.

Doch Jurgis’ Geschichte spiegelt die Zustände in den Schlachthöfen von Chicago Anfang des 20. Jahrhunderts wider. Augenzeugenberichte, Interviews und eigene Erfahrungen aus Undercover-Recherchen waren der Stoff, aus dem der naturalistische Schriftsteller Upton Sinclair den 1906 veröffentlichten Roman „Der Dschungel“ webte. Schon im Erscheinungsjahr war das Buch in 17 Sprachen übersetzt weltweit verbreitet. Die Folge: In Europa brach der Absatz von Fleischkonserven aus den USA dramatisch ein. In den USA wurden durch Präsident Roosevelt Überprüfungen in den Schlacht- und Fleischbetrieben veranlasst und bestätigt. Daraufhin wurde eine neue Bundes-Gesetzgebung zur hygienischen Fleischverarbeitung verabschiedet.

Trotzdem war das Resümee für Upton Sinclair ernüchternd, der feststellte: „Ich zielte auf das Herz der Menschen, aber ich traf nur ihren Bauch.“ An dieser Feststellung hat sich über die Jahrzehnte offensichtlich nicht viel geändert. Zugegeben – die hygienischen Standards für das Gewerbe sind deutlich verschärft worden und werden in der Regel auch eingehalten. An den prekären und harten Arbeitsbedingungen jedoch ist der Fortschritt – trotz der seit Langem bekannten Missstände – vorbeigegangen.

Mindestpreis für Fleisch – aber bitte zugunsten der Erzeuger

Es bedurfte erst einer Bedrohung der menschlichen Gesundheit – der Corona-Pandemie. Infizierte Belegschaften in den Betrieben der Fleischwirtschaft ließen Ängste vor mit Viren belastetem Fleisch aufkommen. Wieder einmal wurde das „Bauchgefühl“ zum treibenden Faktor für den Ruf nach verbesserten Bedingungen, besonders die Arbeits- und Wohnsituation der Beschäftigten geriet in den Fokus.
Schnell wurde der politische Vorschlag für einen gesetzlich vorgegebenen Mindestpreis für Fleisch in die Diskussion geworfen, wobei nicht klar ist, ob damit Abnahmepreise für die landwirtschaftlichen Erzeuger (was sinnvoll bzw. sogar notwendig ist) oder Verbraucher-Endpreise gemeint sind. Letzteres hieße mit großer Sicherheit, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Die Fleischindustrie würde mit Verweis auf die Politik die Preise für den Verbraucher erhöhen ohne eine eigene Begründung für die Erhöhung liefern zu müssen. Es ist zu vermuten, dass die Mehreinnahmen nicht den Beschäftigten zugutekommen, sondern in den filigran aufgebauten und auf Gewinnmaximierung orientierten Unternehmensstrukturen verschwinden würden.

Da jault die Branche auf

Auch die im Bundes-Landwirtschaftsministerium so beliebten „Freiwilligen Vereinbarungen und Selbstverpflichtungen“ sind wegen meist vorhandener Schlupflöcher und kaum möglicher Überprüfbarkeit keine Lösung. Sinnvoller und effektiver sind – zumal die Fleischindustrie geradezu monopolartig aufgestellt ist – letztlich nur klare, zielgerichtete gesetzliche Regelungen verbunden mit dem Aufbau einer schlagkräftigen Kontrollinstitution durch Politik und Staat. Das Aufjaulen der Branche und die reflexartigen Reaktionen der entsprechenden Lobby mit den bekannten Aussagen sind schon jetzt zu hören. Denn auch dieser Weg ist mit Mehrkosten verbunden. Aber die absehbar höheren Preise müssten seitens der Fleischindustrie gegenüber den Verbrauchern transparent und nachvollziehbar kommuniziert werden – nicht aber primär durch die Politik, die gleichwohl in der aufkommenden Diskussion Durchhaltevermögen aufbringen müsste.

Die Diskussion über die Arbeitsbedingungen muss auch als Einstieg in eine Debatte über eine nachhaltige Wirtschaft in der Fleischindustrie genutzt werden. Aktuell geht es eher um die soziale Säule der Nachhaltigkeit. Doch an vielen weiteren Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit ist die Fleischwirtschaft beteiligt und trägt Teil-Verantwortlichkeiten. Stichworte sind: Faire Preise für die landwirtschaftlichen Erzeuger, Grundwasser- und Luft/Klimabelastung durch Güllemassen, massenhafte Tiertransporte durch Konzentration der Betriebsstätten, Aussterben der handwerklich arbeitenden Fleischereibetriebe durch Monopolisierung und Billig-Preis-Politik im Schulterschluss mit den Einzelhandelskonzernen – um nur einige zu nennen.

Fleisch ist zu sehr Alltagsprodukt geworden

Die Fleischindustrie hat schon zu lange unter Duldung der Öffentlichkeit im Halbdunkel agiert. Wenn ein ursprünglich besonderes Lebensmittel durch überbordende Kämpfe um Marktanteile über den Preis zum Artikel des Alltags geworden ist, stellt man in seiner Zufriedenheit keine unangenehmen Fragen. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass die Schlagzeilen von gestern wie ein Strohfeuer erscheinen. Vergessen wir sie schon wieder wie die Erinnerungen an Jurgis?

Wolfgang Götze

Wolfgang Götze ist Politischer Sprecher des FEINHEIMISCH-Vorstandes.

FEINHEIMISCH – Genuss aus Schleswig-Holstein e.V. entstand 2007 aus einem Pilotprojekt des Landwirtschaftsministeriums als Kooperation zwischen Landespolitik, Tourismus, Gastgewerbe und Landwirtschaft/Tierzucht im nördlichsten Bundesland. Einer der Ideengeber war Wolfgang Götze, seinerzeit als Biologe im Landwirtschaftsministerium Kiel tätig. Das Netzwerk aus Gastronomen, Küchenchefs, Hoteliers, agrarischen Erzeugern und Manufakturen, privaten Mitgliedern und gewerblichen Förderern besteht heute aus etwa 500 Mitgliedern.

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