Ich bin systemrelevant!

Vom Friseur bis zum Autobauer – alle krakeelen, wie wichtig sie für unser Land seien. Dabei gebührt regionalen Erzeugern und Gastronomen viel eher unser Respekt. Sie sollten selbstbewusster sein. Ein Kommentar von Wolfgang Götze.

„Ich bin systemrelevant!“ – mit diesem Wort wenden sich immer mehr Vertreter von Unternehmen und Verbänden an die Politik bzw. den Steuerzahler. Allein dieser Begriff soll möglichst steuerfreies und nicht rückzahlbares Geld auf die Konten fließen lassen. Dabei kannte bis zur Bankenkrise 2008 kaum jemand dieses jetzt zum Totschlag-Argument gewordene Wort.

Die Versorgung mit Knackwurst blieb ungefährdet

Wer ist zurzeit nicht alles nicht alles „systemrelevant“: Busunternehmen, Flugzeugbauer, Autohersteller, Friseur- und Kosmetiksalons, Reiseveranstalter – nur um einige zu nennen. Sogar ein milliardenschweres Familienunternehmen der Fleischindustrie verstieg sich angesichts der drohenden Schließung eines Betriebsstandortes zu der Behauptung, „systemrelevant“ zu sein. Nach tatsächlicher Einstellung der Produktion konnten die Verbraucher keinen Engpass bei Kotelett-, Kassler- und Knackwurstversorgung oder gar den Zusammenbruch der regionalen Wirtschaft feststellen.

Leider hatte sich die angesprochene Landesregierung in diesem Fall die Behauptung (vor)schnell zu eigen gemacht. Bei dem genannten Betriebsstandort handelt es sich nur um ein „Element“ von relativ geringer Bedeutung für das „System“. Nach der System-Theorie besteht ein „System“ aus mehr oder weniger vielen „Elementen“, die über Beziehungen miteinander verknüpft sind. Bei der Bewertung der „Systemrelevanz“ ist zudem die Frage zu beantworten, ob es sich bei dem betrachteten „System“ um ein „Teilsystem eines Super-Systems“ oder nur ein „Sub-System“ handelt.

Sind regionale Unternehmen zu bescheiden?

Noch eines sei angemerkt: Es gibt keine einheitliche Definition des Begriffs „System“. Sie unterscheidet sich je nach Positionierung und Fachrichtung des Betrachters deutlich. Daraus ergibt sich fast zwangsläufig auch eine unterschiedliche Einordnung in die „Systemrelevanz“, also die Bedeutung/Wertigkeit eines „Elements“ für das „System“. Erschwert wird die Einordnung zusätzlich durch die Betrachtungsebene: ob international, national, regional oder lokal. Um bei dem Beispiel zu bleiben, ein Schlachtbetrieb kann für das Wirtschaftssystem einer Region von hoher Bedeutung sein, national betrachtet hat er unter Umständen hingegen kaum Gewicht.

Regionale Unternehmen haben den Begriff „systemrelevant“ bisher kaum in den Mund genommen – aus Bescheidenheit? Dabei könnten sie selbstbewusst auf ihre Bedeutung für das Wirtschaftssystem eines Bundeslandes oder einer Region verweisen.

Auch immaterielle Werte zählen

Dies gilt insbesondere für Lebensmittelerzeuger von der Urproduktion bis zur Verarbeitung sowie Gastronomie und Hotellerie. Sie sind gewichtige „Elemente“ in den „Sub-Systemen“ Tourismuswirtschaft, Nahversorgung und Arbeitsmarkt. Ihre Wirkungen reichen noch weiter – hinein in das soziale System mit seinen immateriellen Ansprüchen wie Lebensqualität, Wohlbefinden, Versorgungssicherheit oder in das sozioökologische System mit seinen Werten wie dem Erhalt der Kulturlandschaft, Umwelt oder Klima. Mit Fug und Recht könnten sich regionale Produzenten, Gastronomen und Hoteliers auf „Systemrelevanz“ berufen.

Wer mit flinker Zunge behauptet „Ich bin systemrelevant!“, müsste zukünftig seine systemische Einordnung mit Daten und Fakten untermauern. Ansonsten hat das Schlagwort „systemrelevant“ gute Chancen, zum „Unwort des Jahres“ gekürt zu werden.

Wolfgang Götze

Wolfgang Götze ist Politischer Sprecher des FEINHEIMISCH-Vorstandes.

FEINHEIMISCH – Genuss aus Schleswig-Holstein e.V. entstand 2007 aus einem Pilotprojekt des Landwirtschaftsministeriums als Kooperation zwischen Landespolitik, Tourismus, Gastgewerbe und Landwirtschaft/Tierzucht im nördlichsten Bundesland. Einer der Ideengeber war Wolfgang Götze, seinerzeit als Biologe im Landwirtschaftsministerium Kiel tätig. Das Netzwerk aus Gastronomen, Küchenchefs, Hoteliers, agrarischen Erzeugern und Manufakturen, privaten Mitgliedern und gewerblichen Förderern besteht heute aus etwa 500 Mitgliedern.

www.feinheimisch.de

Foto: Privat; Markus Spiske, unsplash

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