Goldparmäne statt Golden Delicious

Der Regenwald ist bedroht, das wissen wir. Es betrifft aber nicht nur den großen tropischen, sondern auch die kleinen Regenwälder Mitteleuropas – die Streuobstwiesen. Ein Verein macht sich nun für sie stark, und wer die richtige Schorlenmarke kauft, hilft ebenfalls, ihren Fortbestand zu sichern. Von Jan-Peter Wulf

Für einen Tag nach Philadelphia reisen – von Berlin aus überhaupt kein Problem. Eine gute Stunde Fahrt und man ist da. Philadelphia liegt südöstlich der deutschen Hauptstadt bei Storkow. Eine kleine Gemeinde, deren Name sich von den Kolonisten ableitet, die einst von hier aus an die US-Ostküste umsiedeln wollten. Daraus wurde nichts, also wurde das einstige Hammelstall in Philadelphia umbenannt. Vier Kilometer entfernt liegt Neu-Boston.

In Philadelphia gibt es einen Regenwald. Einen sehr kleinen, nur wenige Hektar groß – eine alte, charmante Streuobstwiese mit Apfelbäumen, die rund 80 Jahre alt sind. Streuobstwiesen funktionieren nämlich wegen ihrer Vegetationszonen vom Boden bis zur Krone, wir kennen sie noch aus dem Erdkundeunterricht, ganz ähnlich wie die Regenwälder. Wir stehen an einem sonnigen und erstaunlich warmen Frühherbstmittag zwischen den Bäumen, die Gräser sind noch feucht, es ist angenehm kühl und es summt und surrt überall, von kleinen Fliegen bis zu tieftönenden Hornissen ist in der Luft einiges los.

Apfelbaum

Welche der rund 3.000 bekannten Apfelsorten ist das?

Äpfel im Korb

Frisch geerntet, bald vermostet

Äpfel schleppen

Was sich liebt, das schleppt sich

Biodiversität at its best

Bis zu 5.000 verschiedene Tierarten leben in so einer Streuobstwiese. Im alten Baumbestand mit seinen Verhöhlungen finden selten gewordene Vögel Unterschlupf und Schutz – und reichlich Nahrung ringsum. Ihren Namen hat die Streuobstwiese nicht von verstreut umher liegenden Äpfeln (wobei viele herumliegen, verrotten und so den Boden wieder düngen). Sie heißen so, weil die Apfelbäume hier verstreut stehen. Weit verstreut. Die Bäume haben genug Platz für Verwurzelung, für Tiefe, für eine Ausbreitung der Kronen. Streuobstwiesen schützen vor Erosion, halten den Boden, sichern Biodiversität und müssten eigentlich längst unter Naturschutz stehen. Zugleich sind sie ein Kulturgut und Teil der Agrargeschichte. Alte Gehöfte hatten sie praktisch immer für den Eigenbedarf: Äpfel mit guter Lagerfähigkeit zum Essen im Winter, Frühjahr und Sommer, Äpfel für Kompott und Kuchen, für Saft und Wein, für alles gab es die richtige Frucht. Dann kamen die Plantagen, die Sortenvielfalt implodierte und die Bäume wurden immer mehr so gestreamlint, dass es mitunter aussieht wie im Computerspiel – immer der exakt gleiche und ziemlich kleine Baum. Unter den auch kaum ein Nutztier passt, anders als in den alten Streuobstwiesen – in Philadelphia hingegen kümmern sich die Nachbarn um das gelegentliche Mähen, die Schafe, die sonst auf den angrenzenden Salzwiesen grasen, borgt man sich ein paar Mal im Jahr aus.

Äpfel & Konsorten

Dass man das noch immer ausdrücklich sagen muss…

„Äpfel und Konsorten“: Lobby für die Bäume

Manche Bäume in Philadelphia tragen den Namen ihrer Frucht, zum Beispiel „Goldparmäne“, was eine der ältesten und einst begehrtesten Apfelsorten überhaupt ist. Eine von rund 3.000 bekannten Sorten. An einigen Bäumen steht „unbekannter Apfel“. Die Sorte muss noch von einem Profi bestimmt werden. Es gibt auch Birnen- und Pflaumenbäume. Das sorgt für noch mehr Biodiversität. Nebenan auf der Wiese wurden vor ein paar Jahren mehrere alte Sorten gepflanzt, dafür reisten sogar die Umweltminister vieler Bundesländer an und setzten „Safranapfel“ (Thüringen), „Dülmener Rosenapfel“ (NRW) oder „Altländer Pfannkuchen“ (Hamburg). Möglich macht das alles der 2012 gegründete Verein, der sich für den Erhalt der Streuobstwiesen in Brandenburg stark macht:  Äpfel und Konsorten. Vier Festangestellte in Teilzeit und rund 70 Freiwillige sind ihm bereits angeschlossen, sie kümmern sich um die Baumpflege vom Setzen neuer Bäume im Frühjahr bis zum Beschnitt nach der Ernte im Spätherbst. Mit Baumpatenschaften, die man abschließen kann, werden neue Pflanzungen und die Pflege finanziert. Das Interesse wächst: Immer häufiger werden dem Verein Flächen zur Pacht angeboten und alte Bäume zur Pflege, berichtet Nadine Sauerzapfe, die bei „Äpfel und Konsorten“ für die Koordination zuständig ist. Sie betreibt Lobbyarbeit für das Thema, organisiert Schulungen für Interessenten, es gibt sogar eine eigene Konferenzreihe, die 2020 aus bekannten Gründen ins Digitale verlegt worden ist.

Es ist ein Aufbäumen – literally. Denn das Natur-Kultur-Gut ist arg bedroht. Zu DDR-Zeiten (und somit zu LPG-Zeiten) wurden den Bauern gar Abholzprämien gezahlt, aus kleinen Streuobstwiesen wurden Ackerflächen. 70 bis 80 Prozent der kleinen Regenwälder sind bereits verschwunden. Nicht nur im Osten. In ganz Deutschland ist die Situation prekär. Was auch daran liegt, dass Streuobstwiesen leider sehr unwirtschaftlich sind. Konventioneller Anbau kommt schneller in den Ertrag. Nach ein paar Jahren kann man bereits Äpfel ernten, die hochstämmigen Vintage-Bäume hingegen brauchen mindestens zehn Jahre dafür und es dauert noch mal zwanzig, bis sie „erwachsen“ sind. Kann man herkömmlicher Weise mit dem Pflücker durch die Reihen fahren, muss traditionell von Hand gerüttelt, geschüttelt, gepflückt und geklaubt werden.

Ostmost Berlin

Historische Sorten im Glas: auch in der engagierten Berliner Gastronomie zu finden

Not your ordinary Familienapfelsaft: Ostmost

Und trotzdem gibt es eine kommerzielle Getränkemarke, die sich dem Thema Streuobst verschrieben hat:  Ostmost aus Berlin. Das 2014 gegründete und aus dem Verein „Äpfel und Konsorten“ zum Teil hervorgegangene Unternehmen stellt Saft, Cider und Schorlen aus dem Saft handgeernteter alter Apfelsorten her, die vor allem aus der Rhön stammen. Aus Brandenburg kommt bislang noch wenig vom „Ostmost“-Saft, weil es einfach zu wenig Flächen gibt für die Mengen, die man braucht. Immerhin: Einen Erzeuger hat man hier dieses Jahr als Partner gewonnen. In den Streuobst-Säften stecken bis zu 200 verschiedene Sorten, man ist sortenunrein by nature sozusagen.

Verarbeitet werden historische Sorten wie „Ruhm von Thüringen“, „Gelbe Schafsnase“ oder „Geheimrat Dr. Oldenburg“. Sie werden für die Schorlen und Cider kombiniert mit Gemüse, Kräutern und Beerenobst in Bioqualität (notabene: Streuobst ist faktisch auch bio, aber nicht zertifiziert). Die Flaschenetiketten zieren hip gestaltete Tiere von der Fransenfledermaus bis zum Wiedehopf. Kurz: eine super „selling story“. Aber auch eine teure Angelegenheit: Der Preis, den „Ostmost“ an die Streuobst-Bauern zahlt, liegt um ein Vielfaches über dem, was konventioneller Weise gezahlt wird. Darum sind die Produkte logischer Weise etwas teurer im Verkauf, aber der komplette Aufpreis, den man den Bauern zahlt, kann man auch nicht weitergeben. Sprich: Die Marge ist kleiner. Trotzdem ging die Rechnung bislang im spannenden Markt Berlin gut auf: Positioniert als Gastronomiemarke im kleinen Glasgebinde mit intensivem Geschmack, besetzt „Ostmost“ eine Nische als Genussprodukt, abseits vom klassischen Familienapfelsaft.

 

„Der Handel hat uns den Arsch gerettet“

In den Handel drängen wollte Geschäftsführer Lukas Küttner darum eigentlich nicht wirklich, wegen Corona und dem damit einhergehenden Gastro-Lockdown hat man die Strategie angepasst: „Der Handel hat uns den Arsch gerettet“, so Küttner. Von über 80 Prozent Verkauf in der Gastronomie ist man nun auf 60:40 gegangen, in verschiedenen Bio- und Supermärkten ist man schon drin. In Hamburg, München und dem nahen Leipzig, wo man jeweils ein paar Leuchtturm-Objekte bespielt, will man ebenso wachsen.

Auf der Wiese in Philadelphia geht es aber erstmal ums Wachstum und Gedeihen der Bäume. Auch das ist eine Herausforderung. Lukas Küttner berichtet, dass wenig Regen in den letzten drei Sommern und später Frost den Apfelbäumen zu schaffen machen. Der Klimawandel ist auch hier längst angekommen. Was aber kein Argument gegen, sondern genau für die kleinen Regenwälder ist: „Verschiedene Apfelbaumsorten machen das Ganze etwas besser. Manche Sorten kommen mit den Umwelteinflüssen besser klar.“ Traditionelle Obstwiesen streuen auch das Risiko.

 

Äpfel prüfen

Prüfen…

Apfelsaftproduktion

So wird Apfelsaft gemacht

Apfelsaft abfüllen

Eine Probe ziehen wie beim Weinmachen

Vision: ein grüner Streuobstgürtel

Wir stehen hier nicht nur herum und hören zu. Wir ernten auch mit, sortieren aus, machen die Säcke voll und erleben, wie in „Maze‘s mobiler Mosterei“ auf dem Dorfplatz von Philadelphia, gleich neben der Feuerwehr, frischer Saft aus den Äpfeln gepresst wird. Der ist noch warm, als wir ihn trinken, und schmeckt zum Niederknien. Ein grüner Streuobstgürtel rings um Berlin ist die Vision von „Äpfel und Konsorten“ und „Ostmost“. Ein Naherholungsgebiet, in dem sich die Städter auch gleich mit gutem Obst versorgen können. Wer weiß, vielleicht verbinden sie bald mit dem Namen Philadelphia dann nicht mehr die nur US-Stadt oder einen Frischkäse, sondern einen Ort für guten Apfelsaft.

Fotos: Jan-Peter Wulf

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