„Ein Zero-Waste-Lieferservice ist unser erklärtes Ziel“
Fahrradkuriere liefern Essen aus, so weit, so normal. In Berlin geht das anders: Hier bilden Fahrer*innen ein Kollektiv und fahren nur für besondere Lokale.
Sich Essen liefern zu lassen, ist im Zuge des Corona-Lockdowns noch einmal deutlich beliebter geworden. Tausende von Restaurants bieten seitdem Delivery an und setzen dabei, wenn sie nicht selbst ausfahren, meist auf Lieferando. Der Platzhirsch steht in der Kritik, schlechte Arbeitsbedingungen für die Fahrer*innen sind nur einer von diversen Gründen. In Berlin gibt es mit dem Lieferservice „Kolyma2“ eine interessante Alternative – dahinter steht nämlich ein selbst organisiertes Kollektiv bzw. ein Pop-up-Kollektiv. Was genau das bedeutet, erklärt uns Gründer Stefano Lombardo, auf dem Gruppenfoto in der Bildmitte. Ein Gespräch über Kooperationen, Kant und die Coen-Brüder. Interview: Jan-Peter Wulf
Das war der Arbeitstitel für den Lieferservice, den ich vor zwei Jahren entwickelt habe. Als wir im August 2019 binnen zwei Tagen alles gestartet haben, haben wir einfach den Namen übernommen. Eigentlich ist das Kollektiv das „AMRAS Pop Up Kollektiv“ und der Service ist „Kolyma2“. Mit Essen hat er nichts zu tun: Kolyma2 ist ein Nebendarsteller in „Burn After Reading“ von den Coen-Brüdern.
In dieser Szene fragt der Vorgesetzte zweimal „die Russen?“, „die Russen?“ und er versteht gar nicht, warum die Dokumente den Russen übergeben wurden, denn zu dem Zeitpunkt spielen die Russen gar keine Rolle auf der Weltkarte. Die zwei Hauptcharaktere, die zu den Russen gegangen sind, haben aber noch die alte Aufteilung der Welt vom Kalten Krieg im Kopf. Das fand ich, glaube ich, unbewusst interessant. In dem Sinne, dass man oft versucht, Probleme mit falschen „Kategorien“, die nicht mehr zu den aktuellen Zuständen passen, zu lösen. Ein Beispiel ist der „Arbeitskampf“ der Deliverunion in Berlin. Eine andere wichtige Botschaft des Films, eigentlich die Botschaft des Films, ist dass eigentlich auch die Instanzen, von denen man denken würde, dass sie die Faden ziehen und alles kontrollieren, überhaupt keine Ahnung haben, was abgeht.
Du hast früher bei Deliveroo – mittlerweile aus dem deutschen Markt ausgetreten – Speisen ausgeliefert. Welche Erfahrungen, positive wie negative, hast du in dieser Zeit gemacht?
Die positive Erfahrung ist, dass ich dank Deliveroo zum Radkurier geworden bin. Ich hatte genug Geld, um sorglos zu leben, und Freiheit. Ich hatte aber keine Ahnung, was die Firma überhaupt macht, ob sie Geld verdienen, ob sie Geld verlieren, wie das Geschäft überhaupt läuft. Da ich von Anfang an dabei war, hatte ich auch zu den Leuten im Office einen besonderen Draht. Deliveroo Germany war sehr abhängig von Deliveroo UK. Ich habe das Gefühl, dass in vielerlei Hinsicht nicht mal sie richtig Ahnung hatten, wie es dem Unternehmen ging. Als Deliveroo den deutschen Markt verließ, hatten wir keine Ausrede mehr, zu verwirklichen, was wir schon längst hätten machen wollen.
Ihr seid ein Kollektiv. Was bedeutet das konkret, organisatorisch und wirtschaftlich?
Wir sind ein Pop-Up-Kollektiv. Das Ziel ist, ein Kollektiv zu werden. Das betone ich deswegen, weil es keine einfache Sache ist, gemeinschaftlich Entscheidungen zu treffen – das kann man klar am Beispiel unserer abendländischen Demokratien sehen. Wirtschaftlich bedeutet es, dass die Leute, die mehr in dem Kollektiv engagiert sind, mehr Orga-Arbeit erledigen und am Ende viel weniger verdienen als die Leute, die nur liefern. Viele brauchen nur einen Job, andere brauchen ihn und arbeiten lieber in einem Kollektiv als in einem normalen Unternehmen. Einen Kollektivbetrieb zu gründen, ist wie einen Betrieb zu gründen: Es ist ein Vollzeit-Job, und wenn man kein Kapital oder Investoren hat, ist es ein unbezahlter Vollzeit-Job. Nicht alle wollen oder können das. Bis Mitte März war ich praktisch allein. Seitdem ist das Geschäft explodiert und wir versuchen einfach, den Alltag zu bewältigen.
Ihr habt euch entschieden, mit der Genossenschaft SMart zusammen zu arbeiten. Wie funktioniert das?
Ja, wir sind seit Monaten in Kontakt und arbeiten schon seit langer Zeit an einer möglichen Zusammenarbeit. Eine Firma zu gründen, die die komplexe Entscheidungsmechanismen eines Kollektivs widerspiegelt, ist in unserer aktuellen Situation viel zu aufwändig. Wir haben uns daher entschieden, vorübergehend in die Genossenschaft einzutreten. Es war nicht einfach, sie zu überzeugen, das Geschäft zu übernehmen, denn Betreiber eine Essenslieferdienst-Plattform zu sein, benötigt auch ihrerseits eine Anpassung ihrer normalen Arbeitsprozesse. Diese Zusammenarbeit zwischen unserem Kollektiv und der Genossenschaft ist aber zukunftsweisend, weil das „System“, das wir entwickelt haben, von anderen Gruppen selbstverwalteter Radkurier*innen benutzt werden wird. Mit CoopCycle als IT-Infrastruktur auf der einen Seite und mit SMart als Rechtsstruktur und Stütze für die Buchhaltung auf der anderen wird es möglich eine lokale kollektivistisch organisierte Essenslieferdienst-Plattform ohne Kapital zu starten.
Ihr seid letzten Sommer mit zwei Restaurants gestartet, mittlerweile ist euer Portfolio auf über 30 gewachsen. Wie funktioniert die Zusammenarbeit? Welche Voraussetzungen müssen die Betriebe erfüllen, damit ihr mit ihnen kooperiert?
Die Zusammenarbeit funktioniert gut! Sehr grob gesagt müssen wir pro Lieferung mindestens neun Euro erwirtschaften. Wie diese zustande kommen, entscheiden die Restaurants selbst durch die Variablen, die in der Coopcycle-Plattform eingestellt werden können: Liefergebühr für den Kunden, Liefergebühr für das Restaurant, Prozentsatz auf das Essen und Mindestbestellwert.
Ist die Kooperation immer exklusiv?
Nein, nicht immer, die meisten nutzen auch Lieferando. Aber nicht wenige Restaurants arbeiten nur mit uns zusammen: Moksa, Goldies, Piri’s, Tschüsch, Chez Dang und Style Stallone, Café Botanico, Barettino, Pizzeria Riscossa, Hallesches Haus, Camon, La Lucha, Santa Maria, Facciola, Love Burger und NaNum sind exklusiv bei uns.
Stichwort Lieferando: Das Lieferdienst-Business in Deutschland wird derzeit von diesem einen großen Unternehmen dominiert. Daneben gibt es natürlich individuelle Auslieferung von den Restaurants selbst. Ein Unternehmen wie eures ist selten. Warum?
Das würden wir auch gerne wissen. Viele reden und beschweren sich über die schlechten Arbeitsbedingungen, aber dann etwas Eigenes zu starten, ist eine andere Sache.
Wenn man bei euch bestellt, erhält man per Mail auch Hygiene-Anweisungen für die Entgegennahme und das Auspacken der Speisen. Lieferando steht derzeit in der Kritik, weil die Rider zum einen oft zu wenig Hygiene-Schutz bekommen und zum anderen, weil offenbar versucht wurde, den Betriebsrat zu unterwandern. Es läuft ja zurzeit auch eine Petition. Was ist eure Meinung dazu?
Die Fahrer*innen sollten genug Hygiene-Schutz bekommen. Betriebsräte sind etwas Heiliges, die unseren ganzen Support haben. Kant sagte: Sapere audi („Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, Anm. d. Red.). Viele Fahrer*innen, die sich für Arbeitskämpfe organisieren, sollten den Mut haben, etwas Eigenes zu starten: Condere audi – habe den Mut zu gründen!
Nachhaltigkeit ist ja gerade beim Thema Lieferung ziemlich tricky. Nehmt ihr Einfluss darauf, in welchen Verpackungen die Speisen in den Restaurants zur Abholung durch euch bereitgestellt werden? Oder anders gefragt: Ist zu erwarten, dass in der nächsten Zeit nachhaltige – vielleicht sogar wiederverwendbare – Lösungen zum Einsatz kommen?
Ja. Das ist unser erklärtes Ziel: einen Zero-Waste-Lieferservice anbieten. Zur „Fridays for Future“-Demo im September 2019 haben wir nur mit Tupperware ausgeliefert. Wir sind erst zu den Kunden gefahren, dann zurück zu den Restaurants und dann wieder zu den Kunden. Das war aufwändig, aber es hat sich sehr gut angefühlt. Wir sind schon im Gespräch mit der Firma, die die Recup-Becher herstellt und wir möchten an dieser Front mehr machen können, leider fehlen uns gerade etwas die Kapazitäten.
Durch die Corona-Krise sind viele neue Formen der Kooperation entstanden. Kleine Food- und Beverage-Betriebe schließen sich zu Liefernetzwerken zusammen, wie z.B. Archipel Berlin oder der Stay Home Club. Wie schätzt ihr das langfristige Potenzial des Food-Liefergeschäfts ein?
Keine Ahnung. Die Technik entwickelt sich so schnell, dass niemand kann richtig sagen, denke ich, wie die Branche in zehn Jahren aussehen wird. Hoffentlich mehr Räder und weniger Autos, mehr Kooperativen und weniger normale Unternehmen, mehr Pfandbehälter und weniger Einweg-Verpackungen.
Letzte Frage: Welche Pläne habt ihr für den Rest dieses verrückten Jahres?
Überleben. Und hoffentlich mal wieder in Urlaub gehen können.
Vielen Dank und alles Gute für euch.
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