Jetzt haben sie den Salat

Zu Besuch in der höchstgelegenen Gemüsegärtnerei Deutschlands: Die Obere Mühle in Wertach / Allgäu steht für privates Engagement, Nachhaltigkeit und solidarische Landwirtschaft. Von Birgit Kern-Harasymiw

Es war einmal … eine mehr als 500 Jahre alte Getreidemühle in Wertach, dem höchstgelegenen deutschen Luftkurort am Fuße der Allgäuer Alpen, 915 Meter über dem Meeresspiegel. Längere Zeit stand sie still. Ein Wink des Schicksals wollte es, dass sie 2014 von einem Münchner Ehepaar, zwei erfolgreichen Unternehmern, gefunden wurde. Die beiden waren auf der Suche nach einem besonderen Fleckchen Erde, wo sie selbst Gemüse anbauen und imkern wollten. Oder war es umgekehrt und die Mühle hat Uschi und Holger Ahlborn entdeckt?

Die Ahlborns wollten raus aufs Land, um ihren Traum von einer autarken Landwirtschaft zu verwirklichen. Da Uschi Ahlborn schon in der Kindheit im Oberallgäu eine zweite Heimat fand, ging ihr Mann hier gezielt auf Entdeckungstour. In Wertach fanden sie die Obere Mühle auf einem 1,5 Hektar großen Grundstück, waren schnell verliebt und bald mit den Vorbesitzern handelseinig.

Mühlrad

Das größte oberschlächtige Mühlrad im Allgäu

Historische Wassermühle – neu belebt

Holger Ahlborn erkannte sofort das Potenzial der alten Oberen Mühle. Mit Akribie und Begeisterung ging er daran, das oberschlächtige Mühlrad mit alten Plänen und modernen technischen Erkenntnissen wieder in Gang zu bringen und als kulturelles Denkmal neu zu beleben. Doch bevor die Ahlborns „müllern“ konnten, standen zunächst intensive Recherchearbeiten und die Wiedererlangung der alten Wasserrechte auf dem Plan.

Seit 2018 ist das Mühlrad wieder in Betrieb und dreht sich ganzjährig. Anders als bei mittel- oder unterschlächtigen Mühlen fließt hier das Wasser von oben in die Taschen – genannt Daufeln – des Rades und wird von der Schwerkraft nach unten gezogen wird. So kann mit weniger Wasser deutlich mehr Energie erzeugt werden. Das neue Mühlrad hat den imposanten Durchmesser von 7,50 Meter, damit ist es heute das größte oberschlächtige Mühlrad im Allgäu. Anders als in alten Zeiten wurde es nicht aus Holz, sondern aus modernem Stahl gebaut und wiegt 7000 kg. Inzwischen liefert die Mühle ca. 60.000 kWh Strom pro Jahr für 15 Einfamilienhäuser.

Der Traum von einer autarken Landwirtschaft

Neben der Instandsetzung der Mühle stand als nächstes der Anbau der eigenen Gemüsezucht auf dem Plan. Da trat ein weiterer Glücksfall in Gestalt der erfahrenen Gemüsegärtnerin Ute-Maria Schröder-Stanszik ein. Sie stammt von einer Landwirtschaft am Niederrhein, wo Selbstversorgung zum Selbstverständnis gehörte. Heute lebt sie im nahegelegenen Sulzberg.

Für Ute-Maria ist die Obere Mühle ein „besonderer Kraftort“, auf dem sie mit großem Sachverstand nach den Erkenntnissen von Maria Thun und ihrem Aussaatkalender sowie mit fachlicher Unterstützung von Bioland-Beratern die Gemüsezucht angelegt hat. 2018 startete die Zusammenarbeit, zunächst mit der Konzeptentwicklung, gemeinsam mit Holger Ahlborn. Sie entschieden sich für eine Vierfelderbewirtschaftung, bei der die gesamte Nutzfläche viergeteilt wird und eines der Felder immer für die Gründüngung brach liegt und sich so erholen kann.

Mühlrad

Uschi und Holger Ahlborn mit Bio-Gemüsegärtnerin Ute-Maria Schröder-Stanszik (Mitte)

Zum Jahresbeginn 2019 startete die Umsetzung mit rund 300 Sträuchern Aroniabeeren. Inzwischen wachsen an der Oberen Mühle circa 40 Gemüsesorten, dabei sind viele alte Sorten wie Palmkohl, Topinambur, Mangold, bunte Karotten, Pastinaken sowie Kräuter, rund 100 Beerensträucher wie Heidelbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren, Johannisbeeren, Brombeeren und Streuobst auf einer Wiese. Als nächstes ist ein Pilzgarten geplant.

Dank Ute-Maria und ihrem ganzheitlichen Ansatz gedeiht alles prächtig, für die Ahlborns ist sie schlicht die „Mutter des höchsten Bio-Gemüsegartens in Deutschland“.

Garten

Historischer Kessel der Großeltern Ahlborn

Garten

Sonnenblumen? Nein, Topinambur

Gemüsegarten

Steinmauern speichern Wärme: Der Kohl mag’s

Gewächshaus

Neben diesem Gewächshaus gibt es noch ein Gewächshaus für Tomaten und einen 30 Meter langen Folientunnel

Voll Bio – anderes Gemüse kommt nicht in die Kiste

Statt das Gemüse der Oberen Mühle auf Biomärkten oder im Handel anzubieten, haben sich die Ahlborns für einen Anbau nach Bioland-Richtlinien und eine solidarische Landwirtschaft mit festen Abonnenten entschieden. Die Idee dahinter ist so einfach wie gut: Der Hof ernährt einen Kreis von Mitgliedern, die Verantwortung für die Ernte und das Risiko sowie die Kosten werden geteilt. So kommen ausschließlich saisonale, regionale Bio-Produkte in die Kiste. Lange Transportwege und Verpackungen fallen weg. Nachhaltiger geht es nicht.

Aktuell versorgt die Obere Mühle 59 Haushalte mit wöchentlichen Gemüsekisten, noch ist die Auslastung nicht erreicht. Die Abonnenten kommen aus einem Umkreis von bis zu zehn km und können ihr frisch geerntetes Gemüse jeden Freitag abholen. Mithilfe bei der Ernte ist möglich, aber kein Muss. Die Gemüsekisten sind je nach Ware und Saison zwischen vier bis sechs Kilogramm schwer, dabei sind auch Leichtgewichte wie Salate, Beeren und Kräuter. Haushalte bis zu vier Personen können mit dieser Menge versorgt werden. Wer weniger kocht, abonniert eine halbe Kiste.

Ein tolles Konzept für ein zukunftstaugliches Landwirtschaftsmodell. Nachahmer sind herzlich willkommen – die Ahlborns und ihr Team reichen ihre Vision, Ideen und Erfahrungen gerne weiter, veranstalten Seminare, Info-Abende, spezielle Führungen für Kinder und Feste. Einen Tag der offenen Tür gibt es beispielsweise am Deutschen Mühlentag, den die Deutsche Gesellschaft für Mühlenkunde traditionell am Pfingstmontag bundesweit organisiert. Nach einem rein digitalen Mühlentag in diesem Jahr stehen hoffentlich im nächsten die Türen auch tatsächlich wieder offen.

Neuer Ort der Begegnung

Der Traum von einem möglichst nachhaltigen Leben auf dem Land geht schrittweise weiter. Nach erfolgreich angelegter Bio-Gemüsegärtnerei, einem kleinen Gewächshaus und einem neuen Kühlraum in einem Erdkeller, in dem winterfestes Gemüse und Eingelegtes bei fünf bis acht Grad Temperatur gelagert werden kann, wurde als nächstes das Brotbackhaus in Angriff genommen. Es wurde Ende des Sommers fertiggestellt und ein großer schmiedeeiserner Holzbackofen angeschafft. Hier sollen, sobald das wieder möglich ist, Feste gefeiert werden, Dorfbewohner und andere Besucher ihre mitgebrachten Brotbackteige in den Ofen schieben und weitere Produkte zum Verkauf angeboten werden. Von Zulieferern wie Rapunzel und Sonnentor sowie von regionalen Bio-Anbietern. Nicht zu vergessen Uschi Ahlborns Bio-Honig. Sie hat sich zur Imkerin ausbilden lassen und ein neues Bienenhaus aufgebaut. Seit letztem Jahr bietet sie ihren nach Bioland zertifizierten Honig an.

Holger

Holger Ahlborn am neuen Holzbackofen

Bei aller Leidenschaft und Passion für die Umsetzung ihrer Vision als Role Model für zukunftsfähige Ernährungsweisen hat Holger Ahlborn auch die Wirtschaftlichkeit fest im Blick. Für den Unternehmer, der schon einige Start-Ups erfolgreich aufgebaut hat, gilt die Faustregel, dass „Firmenneugründungen im dritten Jahr eine schwarze Null schreiben sollten“. Im nächsten Jahr geht die Gemüsegärtnerei in ihr drittes Jahr, die Erfolgsaussichten sind gut.

Es war einmal – seit alters her ranken Geschichten um Mühlen und Müllersleut‘ in Sagen und Märchen. In der Oberen Mühle in Wertach sind sie wahr geworden und Uschi und Holger Ahlborn schreiben ihr ganz persönliches Märchen weiter.

Obere Mühle Wertach

Fotos: Roman Harasymiw

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